Die
am 24. Februar 1837 als „Tochter unbekannter Eltern" in Santiago
de Compostela getaufte Rosalía de Castro erfährt schon kurz nach
der Geburt die Seltsamkeiten ihrer Zeit. Denn ihre Eltern sind keineswegs
„unbekannt": Die Adlige Teresa de Castro und der Priesterseminarist
José Martínez Viojo befürcheten wahrscheinlich gesellschaftliche
und klerikale Sanktionen. Denn dass ein Kind im Zölibat gezeugt
wird, gilt als Schande und Sünde. So beauftragen die Eltern die
Schwester des Vaters, María Francisca Martínez, zur Taufpatin.
Rosalía
de Castro entgeht dem Schicksal, welches unehelich geborene Kinder
normaler Weise erfahren: die Zeit bis zur Heirat des ersten Elternteils
im Waisenhaus zu fristen. Sie wächst bei der Familie ihres Vaters
in Ortoño, einem kleinen Ort in der Nähe Santiago de Compostelas
unter der Obhut ihrer Taufpatin auf.
Man
nimmt an, das Castros leibliche Mutter ihre einzige Tochter um circa
1850 zu sich nach Santiago de Compostela nimmt. Dort leben sie weiterhin
zusammen mit ihrer Taufpatin María Martínez. Die Außergewöhnlichkeit
ihres Charakters, ihre Intelligenz und ihr kulturelles Interesse
führen Castro schon bald in die Kreise des Liceo de Santiago, wo
Studenten und Intellektuelle wie Eduardo Pondal oder die intimen
Freunde Aurelio Aguirre und Manuel Murguía ein und aus gehen. 1852
spielt sie dort erstmals die Hauptrolle im Stück Rosmunda von Gil
y Zárate.
Ihr
ethnologisches Interesse läßt sich zum Beispiel am Besuch des Marienfestes
„Nosa Señora da Barca" in Muxía (ein Fischerdorf an der sogenannten
Todesküste im Norden Galiciens) im September 1853 ablesen. Sie ist
dort zusammen mit dem später berühmt werdenden galicischen Dichter
Eduardo Pondal und seiner Schwester Eduarda. Die jungen Frauen infizieren
sich dort mit Typhus. Castro überlebt die tödliche Krankheit, Eduarda
jedoch nicht. Schon sehr früh kommt Castro mit dem Tod hautnah in
Berührung. Über die Gründe, warum Castro 1856 nach Madrid und dort
an den königlichen Hof geht, wurde viel spekuliert. Sicher ist aber,
dass sie dort die revolutionären Unruhen erlebt. Schon bald kann
sie in Madrid mit einer Gedichtsammlung ans Licht der Öffentlichkeit
treten.
Im
Frühjahr 1857 veröffentlicht sie La flor (Die Blüte). Ihr Erstlingswerk
wird von Manuel Murguía in einer Zeitungskritik sehr wohlwollend
besprochen und so scheint der Grundstein für eine nicht nur literarische
Zusammenarbeit gelegt worden zu sein: Im Juli 1858 veröffentlicht
sie den für die Literatur von Frauen wichtigen Text Lieders (sic)
und am 10. Oktober des nämlichen Jahres findet die Heirat mit Manuel
Murguía statt. Nach dem Umzug der Familie nach Santiago de Compostela
bringt Castro dort am 12. Mai 1859 ihr erstes von sechs Kindern
zur Welt: die Tochter Alejandra.
Und
noch im gleichen Jahr veröffentlicht Castro in Vigo mit Hilfe ihres
Gatten ihren ersten Roman, der das nicht nur das galicische Leben
costumbristisch beschreibt, sondern auch die Problematik der Waisenkinder,
der alleinstehenden Frauen und der maskulinen Unberechenbarkeit
aufnimmt: La hija del mar (Die Tochter des Meeres) steht eine persönlichen
Dankwidmung an Murguía voran. 1861 veröffentlicht Castro in Madrid
den langen Feuilletonroman Flavio in der Zeitschrift Crónica de
ambos mundos (Chronik beider Welten), der bald darauf auch in Buchform
erscheint: Die Wankelmütigkeit der Gefühle des Helden führen zu
einem desillusionierenden, ja schockierendem Ende. Liebe und Ehre
von Mann und Frau werden hier als zwei genderspezifisch gegensätzliche
Konstanten der spanischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert vorgestellt.
Nach
ihrer Reise mit ihrem Gatten nach Alicante und Murcia veröffentlicht
Castro im November 1861 ihr erstes galegisches Gedicht: ¡Adiós qu`eu
voume! in der Madrider Zeitschrift El Museo Universal (Das Universalmuseum):
Hier thematisiert sie erstmals die Schönheit Galiciens und ihre
Liebe zur Heimat. Sie wird schwer krank und kehrt im Dezember zu
Mutter und Tochter nach Santiago de Compostela zurück. Der Tod der
Mutter im darauf folgenden Jahre (1862) trifft Castro sehr hart.
Sie verarbeitet diese Erfahrung literarisch in ihrer 1863 veröffentlichten
Gedichtsammlung A Mi Madre (Meiner Mutter).
1863
erscheint auch Rosalía de Castros erste Gedichtsammlung auf galegisch:
Cantares Gallegos (Galegische Lieder). An der Veröffentlichung ist
maßgeblich Manuel Murguía beteiligt. Er initiierte das Projekt anfänglich
ohne das Wissen der Autorin, was zu Zwistigkeiten unter den Eheleuten
führt. Castro und Murguía verfolgen verschiedene Absichten mit ihren
Schriftstellerischen Tätigkeiten. Die Cantares Gallegos gelten in
der Galicischen Literaturgeschichte als Neubeginn der Galicischen
Literatur der Neuzeit. Denn seit dem ausklingenden Mittelalter wurde
immer weniger in Galegisch geschrieben. Das ehemalige Prestige des
Galegischen als Literatursprache war bis ins 19. Jahrhundert zunehmend
verfallen. Castro erweckt durch die Verschriftlichung der oral tradierten
Volksliedern (den sogenannten cantigas, cantares oder coplas) in
eigenen Variationen das Interesse an der traditionellen Lyrik. Galegische
Gedichtsammlungen wie die des mittelalterlichen Königs Alfons des
Weisen schlummern zu dieser Zeit noch in Vergessenheit. In Ruinas,
eine Erzählung, die Castro 1866 in mehreren Folgen wiederum in El
Museo Universal veröffentlicht, beschreibt sie mittels dreier Figuren,
drei für Galicien typische Charaktere und ihre bewegenden Schicksale.
Auf
dem 1985 in Santiago de Compostela zur Erinnerung an Rosalía de
Castros Todestag abgehaltenen Kongress entdeckt die Literaturwissenschaft
schließlich auch den Wert Castros Werke in Prosa. Das mag auch ein
Grund dafür sein, dass ihr 1867 veröffentlichter Roman El caballero
de las botas azules (Der Ritter mit den blauen Stiefeln) 1995 eine
moderne Edition erlebt und so wieder von einem breiten spanischsprachigen
Publikum rezipiert werden kann. Nach der September-Revolution von
1868 verläßt Castro zusammen mit Murguía Galicien und lebt mit ihm
bis 1870 in Simancas. Dort entstehen der Großteil der Gedichte,
die sie 1880 in Follas Novas (Neue Blätter) zusammenfasst, ihrer
zweiten und letzten Gedichtsammlung auf Galegisch.
Von
1871 bis 1875 lebt Castro in La Coruña. Nachdem Castro 1872 zum
Ehrenmitglied der „Wohltätigkeitsgesellschaft der Galiciengebürtigen
auf Havanna" ernannt wird, beginnt sie mit der Publikationsvorbereitung
von Follas Novas. 1872 bringt sie auch die erweiterte zweite Auflage
der Cantares Gallegos heraus. 1881 wird ein Jahr in dem Castro eine
ganze Reihe von Texten veröffentlicht. Zusammen in einem Band kommen
die Novelle tiefenpsychologischen Charakters El primer loco (Cuento
extraño) (Der erste Wahnsinnige (Seltsame Erzählung)) und die costumbristische
Erzählung El Domingo de Ramos (Costumbres Gallegas) (Der Palmsonntag
(Galicische Sitten)) heraus. Die ökologischen Auswirkungen des Raubbaus
am Wald durch die Stahlindustrie stellt Castro mit Padrón y las
inundaciones (Padrón und die Überschwemmungen) literarisch in seine
sozioökonomischen und historischen Zusammenhänge.
Mit
der Erwähnung der angeblichen Galicischen Sitte des Beischlafs als
Gastgeschenk in Costumbres Gallegas kommt es dann zu einem Skandal
um ihre Person und zum Bruch mit den Kulturträgern der Wiederbeleber
des Galegischen. Im Brief vom 26. Juli 1881 lehnt sie folglich auch
Murguías dringliches Bitten entschieden ab, wieder etwas auf Galegisch
zu veröffentlichen. Sie wird sich ihrer Haltung zum zu ihrem Tode
im Jahre 1885 treu bleiben.
Als
bedeutendstes lyrisches Werk Castros in kastilischer Sprache gilt
die 1884 veröffentlichte Gedichtsammlung En las orillas del Sar.
Sie wird sprachlich als wegweisend für die Moderne Lyrik angesehen.
Da En las orillas del Sar als Castros Hauptwerk angesehen wird,
fand es in An den Ufern des Sar auch eine deutsche Übersetzung.
Als
Rosalía de Castro am 15. Juli 1885 in dem kleinen Ort Padrón bei
Santiago de Compostela stirbt, verliert Galicien an diesem Tage
seine innovativste Dichterin. Die Bewunderung für ihre Veröffentlichungen
auf Galegisch haben zur Stilisierung Castros zum Nationalsymbol,
zur Mutter der Nation geführt. Literarische Wirkung: Azorin, Antonio
Machado, Miguel de Unamuno, allesamt Dichter der sogenannten Generation
von 98 und somit Modernisten, haben Rosalía de Castro für das 20.
Jahrhundert wiederentdeckt. Dabei ist es besonders die Direktheit
ihrer Sprache, ihr Existentialismus und die ewigen Themen der Menschheit:
Liebe und Enttäuschung, Leben und Tod, kurz, das Fragen nach dem
Sinn des Lebens, was die Autoren an Rosalía de Castros Schriften,
und besonders an En las orillas del Sar fasziniert.
Der
auch in Deutschland bekannte andalusische Dichter Federico García
Lorca (1898-1936) entdeckt für sich auch die Galicische Lyrik Rosalía
de Castros und wird durch ihre galegischen Verse inspiriert. Der
Andalusier veröffentlicht einen kleinen Gedichtband in Galegisch
mit dem Titel Seis poemas gallegos (Sechs Galegische Gedichte),
die er zwischen 1932 und 1934 schreibt. Das Widmungsgedicht "Canzón
de cuna pra Rosalía Castro, morta" (Wiegenlied für die tote Rosalía
Castro) ist das Ergebnis einer seiner Galicienreisen im Jahre 1932.
In dem Gedicht spielt Lorca auf die Galicische Geschichte an, stellt
ihr das Bild die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela gegenüber
und verbindet dies mit seiner eigenen Pilgerreise an das Grab Rosalía
de Castros.
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